Dieses Buch bietet einen eindrucksvollen Einblick in die frühen Entwicklungen der Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts. Es widmet sich gezielt dem Werk Étienne Carjats, insbesondere aus den 1860er- und frühen 1870er-Jahren - einer Phase, in der sich seine Kunst zwischen klassischer Reduktion, zeichnerischer Präzision und einem neuen Verständnis psychologischer Individualität entfaltete. Carjat, der als Journalist, Dichter, Karikaturist und Fotograf zu den prägenden Persönlichkeiten der Pariser Kultur des Zweiten Kaiserreichs und der frühen Dritten Republik gehörte, verband intellektuelle Reflexion mit künstlerischer Praxis. Seine Porträts herausragender Zeitgenossen - ebenso wie zahlreicher anonymer Modelle - zählen zu den bedeutendsten visuellen Zeugnissen dieser Epoche. Anhand sorgfältig ausgewählter Originalaufnahmen zeigt dieser Bildband, wie Carjat die analytische Schärfe der Karikatur in eine fotografische Bildsprache transformierte, die den Menschen nicht mehr als repräsentativen Typus, sondern als psychologisch aufgeschlossene Persönlichkeit ins Zentrum stellt. In der klaren Reduktion seiner Bildräume, meist frei von theatralischen Requisiten, entwickelte er eine Ästhetik klassischer Einfachheit und stiller Größe. Seine Porträts erscheinen als visuelle Studien des Charakters - als Versuche, das Denken im Gesicht zu erfassen, wie er selbst formulierte. Die hier versammelten Fotografien führen auf eine faszinierende Reise zu den Wurzeln des modernen Porträts: von streng komponierten Atelieraufnahmen über subtile Variationen im Licht und in der physiognomischen Modellierung bis hin zu ersten Ansätzen einer Bildauffassung, die zwischen Realismus, Symbolismus und einem frühen psychologischen Expressionismus oszilliert. Carjats Werk spiegelt die Spannungsfelder einer Epoche wider, in der intime Identität zunehmend zu einem öffentlich verhandelten Konstrukt wurde. Die hier präsentierten Arbeiten lassen die Entwicklung einer eigenständigen, psychologisch durchdrungenen Porträtkunst sichtbar werden - einer Kunst, die den Menschen in seiner inneren Präsenz, in seinen Spannungen und individuellen Ausdrucksformen ernst nimmt. Ein Buch für alle, die sich für Kunst- und Fotografiegeschichte, für Porträts und Porträtkultur, aber ebenso für das geistige und gesellschaftliche Leben des 19. Jahrhunderts interessieren - und für den spannenden Übergang vom klassischen Studiobild zur modernen Bildidee.
Kolja Kramer ist Kunsthistoriker und studiert Kunstgeschichte und Philosophie an den Universitäten in Wien, London und Bern und bei Sotheby`s. Nach seiner europäischen Grand Tour promovierte er über die Ankunft des französischen Impressionismus in Wien um 1900 - ein Projekt, dem er vor allem in Wien, Paris, Berlin, Hamburg und London nachging. Im Anschluss erweiterte er seine Forschungen zum Aufbruch der Avantgarde und begann mit der Publikation seiner Ergebnisse - ein Vorhaben, das seit 2022 in mehreren Etappen veröffentlicht wird. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit wurde Kolja Kramer als Kunstmanager in Wien bekannt. Kolja Kramer lebt in Wien und Andalusien.
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